Statuen und Reliefs als Geschenke an Eschmun
Wie in griechischen und römischen Heiligtümer, war es auch bei den Phöniziern Sitte, den Göttern Votive darzubringen, um sich deren Wohlwollen zu sichern. Die Statuen und Reliefs, welche die Sidonier Eschmun in seinem Heiligtum aufstellten, sind der beste «Seismograph» für den griechischen Einfluss auf die phönizische Kunst. Von der Gründung des Heiligtums bis zu Beginn des 5. Jahrhunderts v.Chr. bestehen die meisten Statuetten aus zyprischem Kalkstein; auch in ihrer äußeren Form folgen sie der künstlerischen Tradition der nahen Mittelmeerinsel.
Ob sie als Fertigprodukte importiert oder von eingewanderten Zyprioten in Sidon gearbeitet wurden, ist nicht mit letzter Sicherheit auszumachen. Rund um 480 v.Chr. setzen die ersten Marmorimporte ein. Ab 400 v.Chr. verdrängten griechische Votive die zyprischen Skulpturen vollständig. Da sich der Marmor im Härtegrad von den weichen lokalen Gesteinen unterscheidet und seine Bearbeitung eine besondere Fertigkeit erfordert, waren von diesem Zeitpunkt an in den sidonischen Bildhauerwerkstätten auch Griechen tätig, die ihre lokalen Gesellen im spezifischen Umgang mit Hammer und Meißel vertraut machten.
Ein reliefverziertes Monument in Form eines Altars ist das reichste Votiv, welches Maurice Dunand im Eschmunheiligtum freigelegt hat. Auf dem oberen Fries haben sich die griechischen Götter um Apollon versammelt, der die Kithara spielt. Auf dem unteren Fries tanzen Nymphen zum Klang von Lyra und Flöte (Abb. 4). Aufgrund des Fundzusammenhangs und des Stils wurde die «Tribune d’Echmoun» um 350 v.Chr. von einem eingewanderten griechischen Künstler geschaffen. Die Götterversammlung auf dem oberen Fries belegt die Vertrautheit der Sidonier mit der griechischen Mythologie und Götterwelt schon rund eine Generation vor Alexander.
Die Absicht der Sidonier, ihre Kinder unter den Schutz Eschmuns zu stellen, drückt sich in der großen Zahl von Statuen sitzender und kauernder Knaben aus. Im äußeren Erscheinungsbild, der Ikonographie, und in der Formgebung, dem Stil, folgen diese Krabbelkinder griechischem Empfinden.
Gleich wie in der Tempelarchitektur manifestiert sich in der Votivskulptur der westliche Einfluss auf die phönizische Kultur lange vor dem Alexanderzug. Die Inschriften auf den Basen der Kinderstatuen sind allerdings durchwegs in phönizischer Sprache und Schrift verfasst (Abb. 5). Der kulturelle Zwiespalt im Konzept der Tempelanlage – außen griechisch, innen orientalisch – kennzeichnet demnach auch die Skulpturen und ihre Inschriften. Das griechische Element blieb bis in die hellenistische Epoche eine äußerliche Modeerscheinung und verdrängte die lokalen Traditionen keineswegs.
Phönizien und der antike Seehandel
Die phönizischen Hafenstädte Aradus, Byblos, Berytos, Sidon und Tyros sind wie Perlen einer Kette entlang des schmalen Streifens der östlichen Mittelmeerküste aufgereiht. Trotz der klimatisch günstigen Lage und einer bis heute blühenden Landwirtschaft beruhte der Reichtum dieser Städte nicht auf der Selbstversorgung, sondern auf den weit gespannten Handelsbeziehungen, die über Gibraltar – die «Säulen des Herakles» – hinaus bis nach Portugal und an die westafrikanische Küste reichten. Neben den berühmten mit Purpur gefärbten Stoffen setzten die Phönizier bei ihren Handelspartnern silberne Schalen, elfenbeinerne Möbel und bronzene Kannen ab. In scharfer Konkurrenz mit den Griechen bemühten sie sich um die Vorherrschaft auf dem Mittelmeer.
Homer zeichnete denn auch ein negatives Bild der Phönizier als skrupellose Seeräuber.
Neben einem umfassenden Bild der lokalen Kultur des 1. Jahrtausends v.Chr. vermittelt das Eschmunheiligtum von Sidon einen höchst differenzierten Einblick in die Hellenisierung Phöniziens. In diesem dynamischen Prozess von Handelsverkehr und Kulturaustausch zwischen Griechenland und Phönizien nimmt es eine Schlüsselstellung ein.
Abbildung 1:
Der Marmortempel auf dem Podium, Rekonstruktionsversuch