Eshmoun - Seite 4

Beitrag von Rolf A. Stucky

Das Heiligtum des Eschmun in Sidon: Kulturelle Kontakte zwischen Phönizien und Griechenland

Prof. Dr. phil. Rolf A. Stucky ist Ordinarius für Klassische Archäologie am Archäologischen Seminar der Universität Basel.

Neben dem Götterpaar Astarte und Baal und neben Melqart/Herakles zählte der jugendliche Eschmun zu den wichtigsten phönizischen Göttern. Durch seinen Tod und seine Auferstehung symbolisierte er die Regenerationskraft der Natur bei Pflanze, Tier und Mensch. Wohl deshalb verehrten die Phönizier Eschmun als Heil-Gott und setzten ihn mit dem griechischen Asklepios gleich. Ein wichtiges Heiligtum des Gottes liegt 3 km nördlich von Sidon, einer bedeutenden phönizischen Handelsmetropole. Durch diese Situation außerhalb des eigentlichen Stadtgebietes wurde es von späteren Überbauungen verschont. Kein phönizisches Heiligtum konnte deshalb so umfassend untersucht werden.

Die Ausgrabungen

Ausgelöst durch Raubgrabungen, welche eine Reihe phönizischer Königsinschriften zu Tage förderten, setzten um die Jahrhundertwende erste Grabungen in den Gärten von Bostan ech-Cheikh ein. Zwischen 1963 und 1979 legte der französische Archäologe Maurice Dunand die gesamte sakrale Zone frei. Als Mitglied des Institut Français de Beyrouth besuchte ich von 1970 bis 1974 seine Grabungen regelmäßig.

Zwischen 1975 und 1995 erschwerte der libanesische Bürgerkrieg weitere Feldforschungen und verunmöglichte deren Veröffentlichung. Vor seinem Tod bat mich Maurice Dunand, die gesamten Funde und Befunde aufzuarbeiten und zu publizieren. Die Skulpturen sind inzwischen veröffentlicht; die Architektur und die phönizischen Inschriften bearbeite ich im Augenblick gemeinsam mit dem Basler Alttestamentler Hans-Peter Mathys.

Die während des Krieges durch den Ausgräber von Sidon nach Byblos in vermeintliche Sicherheit gebrachten 600 Skulpturen, Inschriften und Architekturfragmente verschwanden um 1988 illegal aus der Kreuzritterburg; teilweise sind sie inzwischen im internationalen Kunsthandel wieder aufgetaucht. Auf meine persönliche Intervention hin konnten bisher acht Statuen und Reliefs den libanesischen Behörden zurückerstattet werden.

Eshmoun Tempelanlage

Der Tempel

Wie der sidonische König Eschmunazar II. in der phönizischen Inschrift auf seinem Sarkophag darlegt, hat er das Eschmunheiligtum «an der Quelle Ydlal» um 550 v.Chr. gegründet. In dessen Zentrum steht ein monumentales, ungefähr 30 m hohes Podium aus großen Kalksteinquadern (Abb. 1 u. 2). Um 400 v.Chr. bauten die Sidonier auf dieser Terrasse einen Tempel, der ganz aus Marmor bestand – ein Gestein, das es in Phönizien nicht gibt, sondern das aus Griechenland importiert werden muss. Vom Tempel sind zwar nur wenige Fragmente erhalten; trotzdem lässt sich sein Aufbau mit einiger Sicherheit rekonstruieren: Sein äußeres Erscheinungsbild – die ionischen Säulen, das Gebälk und die Dachtraufe – folgt griechischen Vorbildern (Abb. 1).

In der Detailgestaltung der einzelnen Bauelemente steht ihm das so genannte Erechtheion auf der Athener Akropolis besonders nah. Offenbar lag den Sidoniern viel daran, im äußeren Aspekt des Eschmuntempels diesen berühmten Sakralbau Athens nachzuahmen. Wie schon erwähnt, liegt die Bauzeit des sidonischen Tempels rund zwei Generationen vor dem makedonischen Heereszug Alexanders des Großen durch Phönizien, mit dem man üblicherweise den Hellenismus, die griechische Beeinflussung der unterworfenen Orientalen, beginnen lässt.

Eshmoun Tempelanlage

Im Gegensatz zur griechischen Außenseite präsentierte sich der ebenfalls in Marmor ausgeführte Innenraum in orientalischer Tradition: Das Dach der Vorhalle stützten Säulen mit Wulstbasen assyrischen Typs. Die Cella, das Allerheiligste, wies Stützen auf, aus deren Kapitellen – in Anlehnung an persische Paläste – je vier Stierprotomen herausragen (Abb.3).

Unter der Decke aus Zedernholz waren in die Wände weitere Reliefs mit Stierprotomen eingelassen.

Mit seiner «griechischen Haut» und seinem «orientalischen Innenleben» ist der sidonische Eschmuntempel der älteste Vorläufer der nach dem gleichen Prinzip konzipierten phönizischen und syrischen Tempel der Römerzeit, wie beispielsweise der so genannte Bacchus-Tempel in Baalbek oder der Bel-Tempel in Palmyra. Die Kombination von westlich inspirierter äußerer Erscheinungsform und orientalisch gestaltetem sakralem Innenbereich geht somit weder auf die Römer noch auf die Griechen zurück, sondern wurde schon um 400 v.Chr. von den Sidoniern in ihrem Eschmuntempel als lokale Variante verwirklicht.